Perfekt und ungezügelt – Lev Khesin über sein künstlerisches Material

Perfekt und ungezügelt – Lev Khesin über sein künstlerisches Material

Alle Gespräche mit oder Artikel über den Künstler Lev Khesin fangen wohl so an: „Die Gemälde von Lev Khesin sind keine Bilder in traditionellen Sinne…“ Und das überrascht absolut nicht. Man bringt es einfach nicht über die Lippen, seine Gemälde „nur“ Bilder zu nennen. Sie sind viel mehr Portale, von innen leuchtende, mysteriöse Pforten, die Reisen in Paralleluniversen ermöglichen. Oder vielleicht sind sie gar keine Portale, sondern Wesen. Die außerirdischen Wesen mit ihrem eigenen Charakter, ihren Eigenschaften und ihrer – im wahrsten Sinne des Wortes – vielschichtigen Geschichte. Die einen sind aggressiv und frech, die anderen eher zurückhaltend, kalt, ma­jes­tä­tisch sogar. Wiederum andere reflektieren spielerisch das Licht und zugleich den Betrachter, als ob sie diesen zum Dialog einladen möchten und sagen: „Schau tiefer in mich rein und Du siehst das Tiefste Deiner Seele.“

Khesin selbst beschreibt seine Kunst als „minimalistischer Barock“. Wie bei der Barockmalerei, sind für den Künstler, dessen Heimatstadt Pensa zufälligerweise genau zum Höhepunkt der Barockepoche, im Jahr 1663, an der südöstlichen Grenze des Russischen Reiches gegründet wurde, zum Beispiel die Betonung des Gegensatzes oder vehemente Kontraste in Licht, Farbigkeit und Formen grundsätzlich. In Pensa ist Khesin geboren und aufgewachsen. Sein Kunststudium hat er jedoch an der Universität der Künste Berlin abgeschlossen. Im Gespräch mit „Berlinskij“ redet der Meisterschüler von Professor Frank Badur über seine nichtkonventionelle Maltechnik und seine nicht einfache Beziehung zum temperamentvollen Material.

Lev, verrate uns, was für ein besonderes Material du verwendest, um Deine Farbfantasien zu erschaffen.

Ich arbeite mit dem Silikon und Farbpigmenten, den farbgebenden Substanzen, die ich mit dem Silikon mische.

Das Silikon ist kein traditionelles künstlerisches Material.

Das kann man so sagen. Als ich nach Deutschland gezogen war und mein Studium begonnen hatte, wollte ich alle meinen Kenntnisse, die ich in Russland gesammelt hatte, auf Null setzen und ganz von vorn anfangen. Das betraf auch meine eigene Technik: Ich wollte nicht mit traditionellen Kunstmitteln arbeiten, sondern irgendeinen industriellen Stoff finden, den ich künstlerisch anwenden konnte.

Wie bist du auf Silikon gekommen?

Es war im Jahr 2005, ich war im sechsten Semester an der UdK. Ich interessierte mich schon immer für die Transparenz, als solche. Gleichzeitig wollte ich nach wie vor mit industriellen Stoffen arbeiten. Ich erinnere mich noch daran, wie ich alles in Baumärkten mitnahm, worauf man „transparent“ lesen konnte. Ich experimentierte mit Acrylglas, Harz, anderen Substanzen und Stoffen in unterschiedlichen Proportionen. Eines Tages sah ich in einem Baumarkt Silikontuben. Das Silikon erwies sich als das perfekte Material für mich.

Also rein zufällig?

Ich arbeite sozusagen sehr gerne mit Zufällen. Zehn Jahre nachdem ich zufällig das Silikon für mich entdeckt hatte, fand ich lustigerweise heraus, dass der Stoff auch ein Zufallsprodukt war.

Wie genau kam es dazu?

1932 wollte der deutsche Chemiker Richard Müller einen künstlichen Nebel erfinden, um Städte damit einzuhüllen, um sie bei Luftangriffen unsichtbar zu machen. Aber er scheiterte. Später führte er die Untersuchungen mit der Gas-Substanz fort und entdeckte schließlich das Silikon. Als Dichtungsmaterial ist es etwas mehr als 50 Jahre alt und begegnet uns überall. Man verwendet es zur Herstellung von Silikonformen oder zum Abdichten in Badezimmern und in Küchen. Es gibt eine Vielzahl von Silikonarten.

Verwendest du ein bestimmtes Silikon?

Ich verwende das sogenannte acetatvernetzende Silikon. Man benutzt dieses primär als Dichtstoff zur Abdichtung. Es ist elastisch und weich wie Plastilin und was für mich wichtig ist – transparent. Denn das ermöglicht es, das Silikon mit verschiedenen Pigmenten zu mischen und die Farbe zu bekommen, die man braucht. Doch wegen der Plastilin-Eigenschaften ist es unmöglich, das Silikon auf einer Oberfläche, sprich auf einer Leinwand oder – in meinem Fall auf einem Holzbrett – gleichmäßig aufzutragen. In dieser Hinsicht ist das Harz zum Beispiel viel einfacher. Aber mich fasziniert genau diese Kompliziertheit bei der Arbeit mit dem Silikon. Es ähnelt in diesem Sinn einer Jazz-Improvisation: Es gibt vielleicht eine vorgewählte oder vorherbestimmte Tonalität und eine Gesamtidee, aber die Noten sind nicht geschrieben und die Musiker entwickeln das Thema spontan.

Du hast über das Silikon einmal Folgendes gesagt: “It never works the way I want – so it is always a dialogue“. Was meintest du damit?

Nach all den Jahren von der Arbeit mit dem Silikon kann ich es gut beurteilen: Silikon benimmt sich nie so, wie ich will. Es ist selbstständig, ungezügelt. Ich habe mittlerweile mit fast allen klassischen künstlerischen Materialien gearbeitet, sie lassen sich im Vergleich zum Silikon viel einfacher verarbeiten, weil sie eben von Anfang an dafür erfunden wurden. Aber das interessiert mich nicht besonders. Mich sprechen vor allem die Techniken an, bei denen das Material lebendig und spontan ist, wenn ich lange nicht ahne, was mein Nächster Schritt sein wird. Der Malprozess gleicht dann einem Spiel oder einer Improvisation.

Es ist egal, was ich im Kopf plane, die Arbeit mit dem Silikon endet immer mit einem unerwarteten Ergebnis.

Ist Improvisieren Deiner Meinung nach die beste Malstrategie?

Ja, weil wie gesagt: Es ist egal, was ich im Kopf plane, die Arbeit mit dem Silikon endet immer mit einem unerwarteten Ergebnis. Zunächst verwirrt mich das jedes Mal und in den meisten Fällen tut es mir sogar leid. Aber dann lässt sich die Farbe plötzlich so auftragen, dass man nichts Weiteres machen muss: Das Bild ist fertig. Überdies muss ich am Ende gestehen, dass es viel interessanter geworden ist als mein ursprünglicher Plan. Generell sind die besten Arbeiten normalerweise diejenigen, mit denen ich sehr lange kämpfe und bei denen ich sozusagen versuche, ihnen meine Ansichten beziehungsweise meinen Plan aufzudrängen, die sich aber wehren. Es endet oft mit einem Aha-Erlebnis, und man versteht endlich, wozu all diese Zusammenstößen und Kämpfe da waren.

Du trägst Silikon Schicht für Schicht auf. Wie lange musst Du warten, bis eine Schicht fest wird?

Jede Silikonschicht braucht ungefähr einen halben Tag um zu erstarren. Je nachdem, wie ich die Oberfläche haben möchte, sehr glatt oder rau und uneben, entscheide ich mich, wann ich die nächste Schicht beginne. Silikon verliert im Gegensatz zu Ölfarben nicht an Volumen, wenn es fest wird. In dem Moment, in dem ich das Holzbrett damit beschichte, weiß ich genau, dass das Bild dreidimensional sein wird. Was allerdings jedes Mal offen ist, ist, bis zu welchem Grad sich diese Räumlichkeit entwickelt. 

Das alles klingt nach mühsamer, zeitraubender Arbeit. Wieso arbeitest du dennoch weiter mit Silikon?

Ich mag seine betonte Materialität und das Körperhafte. Mich interessiert die Synthese von dieser groben Stofflichkeit und der Transparenz, dem Licht, das mit der Oberfläche des Bildes interagiert. In der letzten Zeit ruft mich diese Materialität immer wieder dazu auf, das Bild noch mehr in die dritte Dimension zu erweitern. Langsam arbeite ich an meiner ersten Skulpturenserie. Ich gieße Silikon in verschiedene Gegenstände, die ich auf Flohmärkten finde, aber momentan gibt es nur Entwürfe.

Deine Gemälde sind wahre Farbfantasien. Wie entscheidest Du Dich für die Farben?

Ich arbeite gerne mit Gegensätzen – auch bei der Auswahl der Farben. Farbe ist wie eine Sprache, man kann damit kommunizieren, Stimmungen und Aussagen vermitteln. In der europäischen Kunstgeschichte stehen die kräftigeren, satten Farben schon seit Jahrhunderten für etwas wildes, überschwängliches, ungezähmtes, tierisches. Heute werden sie als etwas kitschiges betrachtet. Aber im Gegensatz zu Design und dekorativer Kunst kann ein zu feiner Geschmack in der bildenden Kunst schaden. Deswegen bin ich der Meinung, man muss darauf achten, dass es keine zu eleganten oder richtigen Farbkombinationen gibt und, wenn überhaupt, soll man sie brechen beziehungsweise mit einer Art Disharmonie verdünnen – gerade bei der Silikonmalerei. Denn es gibt eine besondere Verbindung zwischen der Farbe, elektromagnetischer Welle und immaterieller Essenz, und dem dicken, massiven, materiellen Stoff. Sie ziehen sich an und passen gut zusammen.

Deine Werke fordern den Seh- und Tastsinn des Betrachters heraus. Sie sind extrem haptisch: Man will sie unbedingt berühren und versuchen, sie zu deformieren wie die Wasseroberfläche. Ist das auch ein Zufallsprodukt – in diesem Fall – der Silikonmalerei?

Witzigerweise war das bei meiner Kunst schon immer so. An der Carnegie Mellon University in den USA, wo ich 2005 mein Auslandssemester gemacht habe, hatte ich eine kleine Werkstatt. Sie war so klein, es gab nicht mal eine Tür, nur einen Vorhang. Ich müsste meine Werke dort also dort unabgeschlossen stehen lassen. Immer wieder musste ich feststellen, dass die noch nassen Oberflächen meiner Bilder (damals arbeitete ich noch mit Ölfarbe und verschiedenen Harzen) von jemandem in meiner Abwesenheit angefasst wurden. Auch während der Ausstellungen in Amerika habe ich oft gesehen, dass die Besucher versucht haben meine Bilder zu berühren. Das hat mich natürlich ungemein genervt. Nach meiner Rückkehr nach Deutschland wurde mir aber klar, dass diese haptische Komponente meiner Werke nicht ein Problem darstellt, sondern im Gegenteil verstärkt werden sollte. Auf den Fotos funktioniert dieser Effekt nur bedingt, deswegen sollte man meine Bilder direkt erleben. Zum Beispiel sind sie jetzt in einer Ausstellung in der Galerie “ArteA Gallery” in Mailand zu sehen.

Nach welchem Prinzip setzt du Werke für eine Ausstellung zusammen?

Man kann das mit der Zusammensetzung eines Musikalbums vergleichen. Auf der einen Seite kann man nicht einfach irgendwelche Songs in zufälliger Reihenfolge veröffentlichen. Auf der anderen Seite muss es aber auch keine zusammenhängende Geschichte sein. Wenn ich Werke für eine Ausstellung auswähle, lasse ich mich von etwas leiten, was schwer zu verbalisieren ist, man kann es auch Intuition nennen. Außerdem haben die Gemälde aus einer Periode, trotz der Kontraste, etwas ähnliches und lassen sich zu einer gemeinsamen Aussage zusammenfassen. Manchmal hilft mir dabei aber auch das Ausschlussverfahren.

Das Gespräch führte

Anna Esprit /ɛsˈpriː/

Bildergalerie “Lev Khesins Kunstwerke” (Auswahl)

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