Lev Khesin: Ein russischer Künstler im Kontext der westlichen Kunst

Lev Khesin: Ein russischer Künstler im Kontext der westlichen Kunst

Unter Tausenden russischsprachiger Juden, die in den 1990er Jahren als jüdische Kontingentflüchtlinge aus Russland und den anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland migrierten, gab es auch jede Menge Künstler und Kreative. So wanderte auch der Maler und Objektkünstler Lev Khesin mit seiner Familie 1999 nach Deutschland ein. Er wohnte zunächst in einem Dorf in Hessen und zog später nach Leipzig. Im Kontext der außerrussischen Kunstszene wird der 38-Jährige interessanterweise zur Studentenmigration zugeordnet.* Wie ist diese Zuschreibung zu erklären? Um das herauszufinden, lädt „Berlinskij“ den Leser zuerst auf eine kurze gedankliche Zeitreise nach Russland ein.

Es ist Ende der 1990er Jahre. Der 17-jährige Lev Khesin studiert Bildende Kunst an der „Savitsky” Kunsthochschule in seiner Heimatstadt Pensa, in Zentralrussland. Obwohl man dort die Malereitechniken gut erlernen kann, ist ihm das Studium zu konservativ. Laut den Professoren endet die Kunstgeschichte mit den Peredwischniki, der russischen Künstlerbewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. Nichts deutet darauf hin, dass die Kunst sich danach noch weiterentwickelt hat. Der junge Künstler ahnt jedoch, dass in der Kunstwelt des 20. Jahrhundert viel passiert ist. Er muss wissen, was genau. Khesin will Kunst in Europa studieren und entscheidet sich für ein Kunststudium in Deutschland. Bald bietet sich die Gelegenheit dazu und der junge Künstler immigriert mit seinen Eltern und seiner Schwerster in das angestrebte Land. In Leipzig erstellt Khesin seine Kunstmappe für die Bewerbung und wird an der Universität der Künste in Berlin auf Anhieb angenommen. 2008 absolviert er sein Studium als Meisterschüler von Professor Frank Badur.

Lev Khesins Portrait von Maria Zaikina**

Nach dem Abschluss ist Khesin in Berlin geblieben und hat sich dort derweil vollkommen eingelebt. In seinem Studio in Hohenschönhausen arbeitet er tagtäglich, oft begleitet von seinem vierbeinigen Freund, dem Hund Lulu. Khesin hat seine Kunst mittlerweile in einigen Berliner Galerien und Ausstellungsorten präsentiert. Darüber hinaus hat der Künstler sein Repertoire durch Solo- und Gruppenausstellungen in mehreren Städten in Deutschland, Russland und in den USA sowie mit Kunstresidenzen in Mexiko und Japan erweitert. Doch zu Beginn musste sich der junge Künstler erstmal integrieren – sowohl in die deutsche Gesellschaft als auch in die westliche Kunstwelt. „Es war schwierig. Alle Studenten operierten mit Bergriffen, von denen ich wenig Ahnung hatte. Sie nannten immer wieder Namen von Künstlern und Klassikern des 20. Jahrhunderts, von denen ich davor nie gehört habe“, sagt Khesin. Es hat also eine Weile gedauert, bis er sich mit der europäischen Kunstgeschichte und dem westlichen Kunstbetrieb vertraut gemacht hatte.

Mit Lulu am Funkhaus Berlin, Februar 2019

Heute sieht Khesin sich primär als westlichen Künstler, auch wenn man meinen könnte, ihm sei die russische Kultur näher, da er in Russland geboren und aufgewachsen ist. „Das spielt sicherlich eine Rolle“, sagt Khesin, „aber das, was ich als Künstler mache, sehe ich vor allem im Kontext der westlichen Kunst. Hier habe ich studiert, vieles gelernt und dabei vieles in mich aufgenommen.“ In Russland wiederum fühlt sich der Künstler oft als Ausländer. 

Es gab eine Phase in seinem Leben, in der ihn die Frage nach der Nationalität besonders beschäftigte. Er setzte sich damals intensiv damit auseinander, las „Der Sinn des Schaffens“ von Nikolai Berdjajew und stellte sich Fragen wie „Wer bin ich?“ oder „Welche Nationalität trage ich im Herzen?“. Aber irgendwann hat der Künstler aufgehört, sich diese Fragen zu stellen. Für Khesin, der neben russischen und jüdischen noch ukrainische Wurzeln hat, ist diese Identitätsproblematik zu relativ. Er ist in vielen Städten der Welt gewesen, in einigen Ländern hat er eine Weile gewohnt. Alle Orte, die er besucht hat, ließen ihn Russland, die russische Kultur und ihren Platz in dieser Welt in einem anderen Licht sehen. Dieser Platz sei eben zwischen zwei Polen, der westlichen Welt und der asiatischen Welt. Eigentlich könne es eine perfekte Synthese von beiden sein, aber in Wirklichkeit versuche Russland immer wieder, sich diesen zwei Welten aktiv gegenüberzustellen, so Khesin. Seine Kunst stellt gewissermaßen diese Synthese dar. Sie vereinigt die Traditionen der religiösen Kunst und der Moderne, der Ikonenmalerei und des US-amerikanischen Minimalismus. „Meine Eltern sind Ikonenmaler. Vielleicht hat das auch irgendeine Wirkung auf mich gehabt – aber eher unterbewusst. Ich habe darüber nie nachgedacht, bis jemand mich zur Verwendung von goldenen oder metallischen Pigmenten befragte. Es kann sein, es gibt durchaus einen Zusammenhang“, sagt Khesin. Er sei allerdings vor allem von der Farbfeldmalerei, der Minimal Art und dem amerikanischen abstrakten Expressionismus inspiriert.

Und nicht zuletzt: von Berlin. Als der Künstler herzog, war die Stadt noch „ein Durcheinander aus verwilderten Räumen, unbebauten Grundstücken und vielen Zäunen, hinter denen nichts zu finden war“, so Khesin. Dieser „unästhetische, unfertige Zustand wie Brühe, aus der bald etwas gekocht wird“, war für den Künstler ziemlich inspirierend. „Man hat das Gefühl, es fehlt etwas und man soll etwas damit machen. Man soll die Leere und diese öden Räume irgendwie füllen“, sagt Khesin. Er glaubt, in Städten, die ästhetisch wohlhabender sind, fühlt man sich in diesem Sinne überflüssig. Sie brauchen nichts von einem, alles ist ohnehin perfekt und vollkommen. „Es sei denn, man wird zu demjenigen, der diese Vollkommenheit zerstört“, so Khesin. Als Beispiel nennt der Künstler Italien: Wenn man in die Toskana reist oder durch Rom spazieren geht, herrscht in einem ein komplett anderes Lebensgefühl als das in Berlin.

Die Stadt bietet viele Vorteile für die Künstler und weist ein sehr gutes Preis-Leistungs-Verhältnis auf, so Khesin. „Vor 17 Jahren mag die Situation viel besser gewesen sein, aber im Vergleich zu den anderen europäischen Hauptstädten bleibt Berlin eine Ausnahme.“ Zu den materiellen Vorteilen kommen noch die geistigen dazu: zahlreiche Museen, Galerien, und dementsprechend viele Ausstellungen. Aber nicht nur das. Was laut des Künstlers noch viel wichtiger ist, ist die Tatsache, dass Berlin so eine internationale Stadt ist. „Ich mag es sehr, dass Berlin so kosmopolitisch ist!“

Jedoch muss der Künstler zugeben: Er ist der Stadt ein bisschen müde geworden. „Die einst magische Leere und Unordnung sind in den letzten 15 Jahren mit langweiligen, öden Bauwerken verbaut worden. Die Stadt erreicht allmählich eine gewisse Vollkommenheit, die alles andere als inspirierend ist“, sagt Khesin. Es ist aber eher eine poetische Metapher als eine richtige Erklärung, warum der Künstler nicht sein ganzes Leben in Berlin bleiben möchte. Er hat eine Frau und eine 5-jährige Tochter, die bald zur Schule geht. Das Leben wird etwas prosaischer. „Ich würde gerne für eine Weile irgendwo anders leben, zum Beispiel in Georgien, aber wir sehen mal. Wie John Lennon singt, „Life is what happens to you while you’re busy making other plans“.“ Außerdem ist der 38-Jährige, was Wegfahren oder -fliegen angeht, nicht besonders flexibel: Der Künstler muss immer all sein künstlerisches Handwerkszeug bei sich haben, um weiterarbeiten zu können.

Mehr über Khesins Kunst und sein künstlerisches Material erfährst du im nächsten Post.

Deine Anna Esprit /ɛsˈpriː/

* З. Стародубцева “Русское арт-зарубежье: вторая половина XX – начало XXI века”, ГЦСИ, 2010.

** Bildquellen aller Fotos: Lev Khesins InstagramFacebook.

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