
14 Nov „Aha, so wär’s auch möglich?” – Die Künstlerin Yewgeniya Pestova über ihre Aha-Erlebnisse in Berlin
Yewgeniya Pestova wurde 1988 in Moskau geboren. Dort studierte sie Grafikdesign und arbeitete erfolgreich als Designerin und Lehrerin für Lettering und Kalligraphie. Nebenbei schrieb sie Posts für ihren mit hochwertigen Fotos bestückten Instagram-Account, malte Blumenstillleben und fragte sich, wie sich mit der Malerei, sprich Kunst, Geld verdienen lässt. Eines Tages verbrachte sie ihren Urlaub in Berlin. Diese Stadt lässt bekanntlich keinen kalt, auch bei Pestova erhielt sie sofort den Status „Lieblingsstadt“. Als sie bereits zum zweiten Mal nach Berlin kam, fühlte es sich dort wie Zuhause an.
So verliebt man sich in Berlin: leicht, prompt, unwiderruflich. Aber bei weitem nicht jeder schenkt sein Herz der deutschen Hauptstadt. Um diese Stadt zu verstehen, werden bestimmte Eigenschaften von einem gefordert, wie etwa Umtriebigkeit, Unabhängigkeit und ein Stück Verrücktheit. Im August 2015 war Pestova mit ihrem Mann Ilya in ihrem achten (vielleicht sogar neunten) Urlaub in Berlin. Sechs Monate später, im Januar 2016, kamen die beiden zurück – erneut mit dem Auto durch Osteuropa. Aber diesmal nahmen sie auch ihren Basenji Hund Nila, Staffeleien, Gitarren und den ganzen Hausrat mit. Denn nun kamen sie nicht als Besucher, sondern als neuer Berliner und neue Berlinerin.
Heute wohnt Yewgeniya Pestova mit Ilya und Nila in ihrer Wohnung im Prenzlauer Berg. Drei Tage die Woche verbringt sie in ihrem Studio in Weißensee und ist Vollzeit Berliner Mixed Media Künstlerin. Jetzt nennt sie sich auch so, endlich ohne schlechtes Gewissen: „Künstlerin“. Warum es für sie früher unangenehm war, wie Berlin sie veränderte und welche Integrationsschwierigkeiten sie hatte, verrät Yewgeniya Pestova im Gespräch mit „Berlinskij“. Im ersten Teil unseres Interviews geht es vor allem um Berlin, währenddessen machen wir gedanklich ab und zu eine Reise in die Heimat der Künstlerin.
Yewgeniya, zwischen deinem damaligen Urlaub in Berlin im August 2016 und dem eigentlichen Herziehen liegen nur 6 Monate. War es genauso spontan, wie es sich anhört?
Ganz im Gegenteil. Der Umzug war eine sehr bewusste Entscheidung. Denn ich verliebte mich vor sehr langer Zeit in Berlin und wollte seitdem hier leben. Als ich meinen Ehemann kennenlernte, zeigte ich ihm auch meine Lieblingsstadt und teilte meine Gedanken über den Umzug. Wir besuchten Berlin zusammen und ihm gefiel es hier sehr. Nachdem wir zurückgekehrt waren und geheiratet hatten, beschäftigte ich mich mit der Frage, wie man nach Deutschland einwandern kann. Ich suchte nach deutschen und jüdischen Verwandten, oder wollte mich bei einer Universität bewerben. Dann stellte es sich plötzlich heraus, dass mein Mann als IT-Spezialist eine „Blue Card“ beantragen darf: Ein Freund fragte mich zu irgendeinem Zuwanderungsprogramm für ausländische Fachkräfte und erwähnte diese „Blue Card“. Ich wendete mich an meinem Mann und er sagte: „Ja klar, wenn wir wollen, können wir gleich nach Berlin ziehen.“ Es war sehr witzig.

So seid ihr also sofort umgezogen?
Nein, wir blieben noch eineinhalb Jahre in Moskau, aber kamen währenddessen immer wieder nach Berlin und wohnten in der Stadt, sozusagen „zur Probe“. Als wir eines Tages zurück in Moskau waren, kündigte ich meinen Job. Ilya fing an, nach einem Job in Berlin zu suchen. Wir sammelten die Unterlagen und beantragten das Visum.
Warum wollest du unbedingt nach Berlin ziehen?
Weil Berlin klasse ist. Ich habe das Gefühl, dass die ganze Stadt mit meinen inneren Werten im Einklang lebt. Außerdem mag ich die Art und Weise, wie alles in Berlin aufgebaut ist. Es gibt wenige Hochhäuser, aber viele Parks. Der attraktive öffentliche Nahverkehr macht das Leben komfortabel: Auch wenn man am Stadtrand wohnt, kann man schnell ins Zentrum fahren. Dabei gibt es keinen sogenannten Zentralismus in Berlin. Ich bin in Biryulyovo aufgewachsen, einem der Wohnviertel in Moskau. Aber eigentlich war ich dort nur zum Schlafen, sonst musste ich immer ins Zentrum fahren. In Moskau fühlte ich mich auch deswegen unwohl. In Berlin fühle ich mich dagegen sehr wohl – wie zu Hause eben. Darüber hinaus wirkt die russische Hauptstadt monokulturell. Berlin ist im Gegenteil zu multikulturell: Hier treffen so viele verschiedene Kulturen aufeinander, das merkt man sofort.
Die Stadt lässt einen nie vergessen, dass es unterschiedliche Lebens- und Sichtweisen, unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Situationen und vor allem unterschiedliche Menschen gibt.
Warum findest du das gut?
Die Stadt lässt einen nie vergessen, dass es unterschiedliche Lebens- und Sichtweisen, unterschiedliche Hintergründe, unterschiedliche Situationen und vor allem unterschiedliche Menschen gibt. Deswegen reagiert jeder Mensch anders, auch auf Kleinigkeiten. In Berlin stolpert man oft über seine Komplexe, seine Erfahrungen und seine Erziehung. Denn hier wird ein solches Umfeld geschafft, wo man seine eigenen Normen und in der Familie vorgeschriebene Werte immer wieder hinterfragen muss.
Hat Berlin einen Einfluss auf deine Kunst geübt?
Auf jeden Fall. In Berlin kann man überall Kunst von anderen Künstlern finden und dementsprechend auch sehen, wie und womit sie ihre Gemälde herstellen. Als wir herkamen, besuchte ich viele Galerien und Ausstellungen und es war für mich ein Aha-Erlebnis à la „Aha, so wär’s auch möglich?”. Diese einzigartige Berliner Freiheit wird auch auf die Kunst übertragen: Man darf hier nicht nur alles anziehen, was man will, sondern auch in der Malerei wirklich alles Mögliche verwenden. Künstler dürfen schmieren, klecksen, pinseln, streichen. Wenn man möchte, darf man auch mit Preiselbeersaft malen. Man muss nur eine richtige Methode finden und sie anwenden.
Und wie ist es in Russland?
In Russland ist es anders: Es fehlt einem der Mut, mit Materialien zu experimentieren. Wenn ein Künstler anfängt, mit Ölfarben zu malen, soll er auch weiter nur Ölfarben arbeiten. Wenn man mit Acrylfarben malt, dann gibt es für ihn nur Acrylfarben. Alle halten sich in Schranken, die sie für sich schaffen, – nicht die Professoren an Hochschulen, nicht die Kunstkritiker, sondern jeder für sich selbst.
Man sagt, das Studium an Kunsthochschulen in Russland ist sehr konservativ.
Ja, das stimmt wahrscheinlich auch. Aber gerade an der Universität habe ich gelernt, wie man verschiedene Techniken anwendet und miteinander kombiniert, dort wurde das begrüßt. Und sobald man die Hochschule verlassen hat und anfängt, seine eigene Kunst zu machen, verliert man den klaren Blick und den Mut zum Experimentieren. In der Tretjakow-Galerie oder auch in aktuellen Ausstellungen sieht man überall das gleiche. Außerdem gab es früher einen Mangel an Künstlermaterialien in Russland. Deswegen hat Berlin meine Kunst vor allem dadurch beeinflußt, dass ich hier viele neuen Maltechniken ausprobieren konnte: wasserlösliche Ölfarben, flüssige Aquarellfarben, Ölpastelle, Brush Pens und vieles mehr. (Mittlerweile findet man all diesen Künstlerbedarf auch in Russland.)

Bildergalerie* “Die Experimentierfreude”
Als du noch in Moskau gelebt hast, hast du dir vorgenommen, mit der Malerei Geld verdienen zu können. Nach dem Umzug hast du auf Instagram geschrieben, du wolltest der Frage in Berlin weiter nachgehen.
Ganz genau. Mein Mann hat einen guten Job und verdient genug für uns beide. Aber ich habe auch meine eigenen Ambitionen und will verstehen, wie man mit der Kunst Geld verdient. Ich muss aber zugeben, dass ich früher karrieriemäßig immer schneller voran gekommen bin. Diese Künstlerkarriere, die ich in Moskau startete, ist mein bisher sich am langsamsten entwickelndes Projekt. Alles, was ich zuvor beruflich getan habe, – Design, Illustration, Stockbilder, Workshops, Kalligraphie-Projekte, Online-Shop –, war viel schneller ertragreich.
Läuft es in Berlin besser?
Naja. In Berlin widme ich schon seit über einem Jahr 90 Prozent meiner Zeit dem, was man als Künstlerdasein bezeichnen würde, – Malerei, Grafik, Digital Zeichnen, Werbung, Social Media, Projekte, Ausstellungen –, aber es gibt immer noch keinen Profit. Ebenso gibt es auch keinen klaren Plan oder kein Szenario für eine Künstlerkarriere. Aber ich finde es in Berlin einfacher als in Moskau, sogar trotz des Wettbewerbs und trotz der Tatsache, dass sehr viele Künstler hier leben und Geld verdienen wollen.
Warum ist es einfacher hier?
Es gibt einen Kunstmarkt hier, der so in Russland immer noch nicht wirklich existiert. Dort können es sich die Künstler nur leisten Kunst zu machen, wenn sie Kunst unterrichten. Hier gibt es solche Fälle auch, aber außer dem Unterrichten hat man auch andere Einkünfte: Man veranstaltet Ausstellungen, gibt Kataloge zu Ausstellungen heraus, verkauft seine Bilder in Galerien, macht Workshops. In Russland muss man unterrichten, um das Geld für das Leben zu verdienen. Ausschließlich in seiner Freizeit kann man dann Kunst machen und seine Kunst bewerben, um wiederum weiter unterrichten zu dürfen. Wenn ein Künstler in Berlin aufhört zu unterrichten, wird es sich auf seine gesamte Künstlerkarriere nicht nachteilig auswirken.
Ich dachte mir, ich sei so toll, ich würde kommen und mich von jetzt auf gleich in die Berliner Kunstszene integrieren. Aber die Realität war eine andere.
Berlin ist für seine lebendige Kunstszene bekannt. Hast du dich in die lokale Kunstszene integriert?
Ich hatte große Erwartungen, aber ich habe mich getäuscht. Ich dachte mir, ich sei so toll, ich würde kommen und mich von jetzt auf gleich in die Berliner Kunstszene integrieren. Aber die Realität war eine andere. Als wir herkamen, konnte ich nicht so gut Deutsch. Da ich zudem Perfektionistin bin und eine Art Strebersyndrom habe (wenn ich etwas nicht ausgezeichnet mache, dann mache ich es lieber gar nicht), vermied ich anfangs den Kontakt mit Menschen, mit denen ich kein richtiges Gespräch auf Deutsch führen konnte. Aus diesem Grund konnte ich mich in den ersten zwei Jahren der Integration beruflich nicht weiterentwickeln. Das war eine sehr unbequeme Wahrheit, die ich mir erstmal eingestehen musste.
Hast du Kontakt zu russischen Künstlern in Berlin?
Wegen der Sprachbarriere suchte ich zunächst tatsächlich nach russischen Künstlern hier. Allerdings hatte ich nicht so viel Glück und musste feststellen, dass die Mehrheit der russischen Kunstszene vor allem die Leute älterer Generationen sind. Ich besuchte ein paar Ausstellungen, aber es hat mich nicht weitergebracht. Ich würde sagen, wir hatten einfach keine gemeinsamen Berührungspunkte, da ich ein Facebook-Instagram-Mensch bin.
Und was mit jungen Künstlern?
Ich habe nicht viele kennengelernt, deswegen habe ich mir gedacht: Wenn es keine richtige Community von jungen Künstlern gibt, baue ich sie selbst auf. Ich suchte nach Leuten mit verschiedenen Kunstprojekten, nach anderen 20- bis 30-jährigen Russen, die auch relativ neu in der Stadt sind. Mit einer Frau arbeitete ich dann an einem coolen Kalligraphie-Projekt. Da ich mehr Zeit der Malerei widmen und mich als Malerin weiterentwickeln wollte, beendeten wir es aber nach einer Weile.

Was für Kunstprojekte hast du noch realisiert oder bei welchen hast du mitgemacht?
In meiner vorherigen Wohnung habe ich ein privates Coworking Space für Künstler geöffnet. Das Wohnzimmer dort konnte man in wenigen Schritten in ein Atelier umbauen. Ich habe Frauen gefunden und wir haben dort zusammen gearbeitet. Nebenbei habe ich sie auch ein bisschen in Kalligraphie unterrichtet. Im Januar haben Ilya und ich unser dreijähriges Jubiläum in Deutschland gefeiert, und ich habe meine eigene Wohnungsausstellung veranstaltet und meine Berliner Arbeiten gezeigt. Es war eine Präsentation der Teilergebnisse meines künstlerischen Werdegangs in Berlin. Alles ist sehr gut gelaufen, über 40 Menschen waren da! Letztes Jahr nahm ich auch an einer Gruppenausstellung in der Galerie „Atelier Zwo“ von Karin Dauenheimer in Duisburg teil. Es war ebenfalls eine tolle Erfahrung.
Das Gespräch führte
Anna Esprit /ɛsˈpriː/
Mehr über Yewgeniya Pestovas Kunst, über Instagram und das ehrliche Blogging reden wir im zweiten Teil unseres Interviews.
* Bildquelle aller Fotos: Yewgeniya Pestovas Instagram
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