„Nur ein Künstler zu sein ist heute zu wenig“ – Vadim Zakharov über “Freehome” und das westliche Kunstsystem

„Nur ein Künstler zu sein ist heute zu wenig“ – Vadim Zakharov über “Freehome” und das westliche Kunstsystem

Der Moskauer Konzeptualismus bildete sich als künstlerische Strömung am Anfang der 70er Jahre. Die erste Kunstaktion von der Kunstgruppe “Kollektive Aktionen“ fand 1976 statt. 1978 ist das Datum der ersten Arbeit von Vadim Zakharov als Künstler. In den 1980er Jahren erklärte sich der Künstler Vadim Zakharov zum Archivar des Moskauer Konzeptualismus und der gesamten sowjetischen Underground-Kunst. Während der Perestroika wanderte er mit seiner Frau Maria Porudominskaja nach Deutschland ein.

Heute lebt und arbeitet Zakharov in Berlin. Er ist eine bekannte russische Persönlichkeit in der westlichen Kunstszene – und wohl der sozialverantwortlichste* und vielseitigste unter den Moskauer Konzeptualisten. Seine Kunst ist durch ein breites Spektrum der verwendeten Ausdrucksmedien, Genres und Praktiken gekennzeichnet: Malerei, Fotografie, Video, Installationen, Objekte, Aktionen, Performances, Typographie. 2003 errichtete Zakharov ein Denkmal anlässlich Adornos 100. Geburtstag in Frankfurt am Main. 2013 präsentierte er Russland auf der Biennale in Venedig. Seine Installation Danaё wurde von Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin, kuratiert. Außerdem geht Zakharovs künstlerische Praxis weit über die Rolle „des Künstlers Vadim Zakharov“ hinaus. Wie der Kunsttheoretiker und Philosoph Boris Groys hervorhebt, „übernimmt Zakharov alle Arbeiten des Kunstsystems – Künstler, Kurator, Kritiker, Designer, Verleger, Biograph, Archivar, Dokumentarfilmer, Historiker und Dolmetscher –, um seine kulturelle Autonomie zu bestätigen“.**

Im zweiten Teil unseres Gespräches redet „Berlinskij“ mit dem Künstler und seiner Frau Maria Porudominskaja über „den kreativen Text der Kunst“, den aktuellen Platz des Künstlers darin und das Berliner Kunstprojekt des Ehepaars „Freehome“ – das noch einmal unterstreicht, dass Vadim Zakharov mittlerweile eine Institution des Kunstsystems ist

Vadim, in Deutschland sind Sie als Vertreter der Moskauer Konzeptschule bekannt. Bekommt die künstlerische Strömung hier genug Aufmerksamkeit?

Vadim: Im Westen bleibt der Moskauer Konzeptualismus leider heute immer noch Exotika. Auf dieser These basiert auch mein letztes Kunstwerk „Der Moskauer Konzeptualismus, vorgestellt von Vadim Zakharov“. Es wurde 2018 auf der Ausstellung „Hello World“ im Hamburger Bahnhof präsentiert. Da lag ich im Gorillakostüm vier Stunden lang in einem riesigen Archivordner, fast ohne mich zu bewegen. Gorilla in der Depression ist ein Bildnis für den Moskauer Konzeptualismus als das Exotische.

Woran liegt das?

Vadim: Bis jetzt wurde zu wenige originelle Texte des Moskauer Konzeptualismus in andere Sprachen übersetzt. Dabei ist der Moskauer Konzeptualismus eine künstlerische Strömung mit einer entwickelten Kunstsprache, mit Begrifflichkeiten, Konzepten und theoretischen Texten. Keine andere Strömung seit der Epoche der russischer Avantgarde hat eine solche theoretische Grundlage wie diese. (Darüber hinaus hat jeder Künstler seine ausgeprägte Kunstsprache und seine Begrifflichkeit ausgearbeitet, die notwendig sind, um seine Kunst zu verstehen. – Anm.d.Red.)

Vadim und seine Ordner in der Wohnung des Künstlers

Diese Strömung passt wohl nicht ins westlichen Kunstsystem, dem oft unterstellt wird, alles zu bestimmen. Vor allem die Grenzen zwischen den kunstmarktfähigen und nicht kunstmarktfähigen Kunstwerken. Wie unterscheidet man heute die wahre Kunst, also die Kunst mit einem ganz großen K, von den rein kommerziellen Arbeiten?

Vadim: Es gibt die Kunst mit einem ganz großen K nicht mehr. Die Postmoderne hat alle Buchstaben gleichgemacht. Das Kunstsystem zieht aber weiter Kunststars auf (was meiner Meinung nach eine veraltete Methode ist), die nicht mal Großbuchstaben sind. Wenn wir bei der Metapher bleiben, verkörpern sie richtige Initialen, die vom kreativen Text der Kunst losgelöst sind. Jeff Koons, Damien Hirst und andere Künstler solchen Rangs sind ausgezeichnet funktionierende Geschäftsmodelle. Diese Künstler-Initialen sind so groß, dass man nicht mehr sieht, wo ihr Kopf und wo die Beine sind. Das ist eine Art KaDeWe! Ich gehe ins KaDeWe einmal im Jahr, wenn es Rabatte gibt. Und das nicht mal regelmäßig. Heute ist mir der „lebende“ Text der Kunst wichtig, mit seinen Problemen, Unglücken, Fehlern und Künstlern, die aus verschiedenen Gründen vom Kunstsystem abgelehnt werden.

Die Kunstwerke von berühmten Künstlern, Künstlern-Initialen, werden für Rekordsummen verkauft. Spricht dies dafür, dass die Künstler auch gute Kunst machen?

Die Tatsache, dass Werke eines Künstlers verkauft werden, ist nicht das einzige Kriterium für gute Kunst. Sehr viele Künstler imitieren ernsthafte Themen und stellen Kunstprodukte her. Sie schwimmen mit dem Strom der Kunsttrends. Zum Beispiel sind heute Themen in Mode wie Identitätssuche, Kritik am Postkolonialismus oder Postkommunismus und der Genderproblematik. Wenn man eins von diesen Problemen nicht berührt, ist man kein moderner Künstler mehr. Darüber hinaus soll man sich zu diesem Thema immer wieder laut äußern, damit anderen es auch mitbekommen, dass man sich dafür engagiert. Sonst wird niemand einen ausstellen. Ich mag es nicht, wenn Künstler Theorien folgen, anstatt sie selbst zu entwickeln. Ich mag es nicht, wenn ein Künstler bewertet wird, je nachdem, in welcher Galerie er ausgestellt wird. Das ist eine weitere Absurdität.

Heute wird die Auseinandersetzung mit den Trends kanonisiert und oft in absurden, komischen Formen ausgedrückt.

Vadim Zakharov

Genau diese Themen spiegeln aber die Problemen der heutigen Welt wider.

Dies sind wichtige Themen, das bestreite ich nicht. Aber heute wird die Auseinandersetzung mit den Trends kanonisiert und oft in absurden, komischen Formen ausgedrückt. Das ist mir völlig unverständlich. Das Kunstschaffen kann sich nicht nur durch die von Philosophen und Kritikern ausgearbeiteten intelligenten Konzepte-Korridore bewegen. Der Künstler hat das Recht auf Dummheit!

Es hilft wahrscheinlich wenig dabei, finanziell erfolgreichen zu sein.

Ich achte nicht mehr darauf, wenn jemand mir sagt, ich solle für ein gutes Geschäft aufhören, mein Archiv zu sammeln, meine Verlagstätigkeit oder andere Sache zu betreiben, zum Beispiel „Freehome“. Künstler sollen sich selbst organisieren und mit Kuratoren, Sammlern paritätisch – und nicht als Bettler – arbeiten. Für mich ist das Prinzip „Künstler als Institution“ das Schlüsselkonzept heute. Dem folge ich selbst seit vielen Jahren.

Was ist „Freehome“?

Vadim: Das ist eine Künstlerstrategie, wobei nicht nur eigene Ambitionen wichtig sind, sondern auch das Leben der Kultur im Allgemeinen. Ich bin der Überzeugung, dass es nicht genug ist heute, die Aufgaben des Künstlerberufs nur eindeutig und direkt zu verstehen.

Warum?

Vadim: Das bedeutet Offenbares nicht einzusehen: Die Welt, die Kultur und die Kunst haben sich wieder einmal grundlegend verändert. Die alten Kriterien funktionieren nicht mehr.

Ausstellung "ICH" von Rudi Molacek, 27 September – 5 October 2019

Was verfolgen Sie mit der Strategie „Freehome“?

Vadim: Wir versuchen, die Traditionen der Moskauer konzeptuellen Schule zu entwickeln, die mit der Taktik der Selbstorganisation verbunden sind, aber auf einer anderen – internationalen – Plattform. Die Erfahrung aus den 1970er-1980er Jahren, als wir Ausstellungen in den Wohnräumen gemacht hatten, weil es in der Sowjetunion nicht anders ging, beweist dass Künstler selbst in der Lage sind, wichtige Prozesse in der Kultur zu gestalten. Sie müssen nicht darauf warten, dass sich ein Sammler oder ein Galerist für sie interessiert. Indem wir in Berlin „Freehome“-Ausstellungen machen, schaffen wir einen Raum außerhalb des Geschäfts.

Ich bin der Überzeugung, dass es nicht genug ist heute, die Aufgaben des Künstlerberufs nur eindeutig und direkt zu verstehen.

Vadim Zakharov

Wo veranstalten Sie „Freehome“-Ausstellungen?

Vadim: In unserer Wohnung, die gleichzeitig ein Atelier und ein Arbeitsraum ist. „Freehome“ ist ein Ort, an dem Künstler, Kuratoren und Kritiker Projekte anderer Formate erstellen. Die Projekte, für die der kreative Dialog außerhalb der festgelegten Regeln – statusmäßigen, preislichen oder hierarchischen – von Bedeutung ist.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vadim: Wir arbeiten zum Beispiel gerne mit „fontainе b“ zusammen, die uns die seltene Gelegenheit geben, Klassiker des 20. Jahrhunderts auszustellen. Somit können Joseph Beuys, Marcel Duchamp oder Vito Acconci problemlos mit anderen zeitgenössischen Künstlern verschiedener Status und Altersgruppen präsentiert und zum Beispiel neben der Toilettentür aufgehängt werden. Ich denke, Beuys und die anderen Klassiker würden sich freuen, sich mal in einer lebendigen Kunstatmosphäre zu befinden, nicht immer nur in der toten Atmosphäre einer Museumssammlung.

Ausstellung "ICH" von Rudi Molacek, 27 September – 5 October 2019

Stellen Sie auch russische Künstler aus?

Vadim: Die Interessen von „Freehome“ liegen überwiegend außerhalb der russischen Kunst. Für uns ist es interessant, andere Kulturen zu berühren, andere Beschreibungssprache dieser verrückten Welt zu verstehen. Wir sind bereit, russische kreative Leute einzuladen, aber das sollte nicht im Programm von „Freehome“ dominieren. Sonst wird es zu einem Russischen Club (Link zum ersten Teil des Interviews). Inzwischen haben wir zwei ausgezeichnete Einzelausstellungen von den russischen Künstlern gemacht: die eine von dem Fotografen Vladimir Sychov und die andere von dem Künstler Yaroslav Schwarzstein, der auch als Illustrator für die Bücher von Vladimir Sorokin bekannt ist. Außerdem gab es Gruppenausstellungen, zu denen wir russische Künstler eingeladen haben.

Nach welchen Kriterien suchen Sie Künstler für Ihre „Freehome“-Ausstellungen aus?

Vadim: Wir möchten Kunstwerke zeigen, die anderswo nicht ausgestellt wurden. Überdies stellen wir Textarbeiten und schriftliche Kommentare zu Kunstwerken auch gerne zur Schau, nicht nur von Künstlern selbst, sondern auch von den anderen Leuten, etwa von Kunsthistorikern, Kritikern oder Musikern. Wir möchten einen breiten Berührungswinkel der modernen Kultur präsentieren.

Wie informiert man sich über neue „Freehome“-Ausstellungen?

Maria: Wir verschicken persönliche Einladungen an die Menschen, die wir kennen oder die uns gebeten haben, sie in die Newsletter-Liste einzutragen. Jedoch sperren wir die Türen nicht, alle sind willkommen. Nur ist es für uns wichtig, diesen Prozess unter Kontrolle zu haben. Es geht nicht um irgendeine Elite der Gesellschaft. Man muss nur berücksichtigen, dass die Ausstellungen in unserer Wohnung stattfinden, in einem privaten Ort. Wenn 100 Leute hier zusammenkommen, wird es unangenehm voll, man muss sich durchzwängen.

Wie kann man aber trotzdem herausfinden, welche Ausstellung bei Ihnen aktuell läuft?

Maria: Wir machen keine vorläufige Ankündigung der Ausstellungen. Aber wir machen folgendes: Wir dokumentieren die Ausstellungseröffnung und veröffentlichen am nächsten Tag Fotos auf der „Freehome“-Facebook-Seite. In den ersten drei Ausstellungstagen gibt es bestimmte Öffnungszeiten. Vernissagen finden immer an einem Freitagabend statt, dann an dem darauf kommenden Wochenende haben wir für einen Besuch auf. In der Woche danach muss man sich zu einer Zeit verabreden.

Ausstellung von Arnold Dreyblatt, 3 Mai – 10 Mai 2019

„Freehome“ ist ein spezielles Kunstprojekt. Was hören Sie oft von Ihren Besuchern diesbezüglich?

Maria: Da die Wohnung als Arbeits- und Ausstellungsraum benutzt wird, versteht niemand, wo unser Privatleben stattfindet. Sogar die Leute, die uns schon länger kennen, fragen uns danach. Aber das ist es: ein wesentliches Teil unseres Privatlebens. Außerdem ist es grundlegend zu verstehen, dass „Freehome“ ein absolut unentgeltliches Projekt ist. Wenn man die ausgestellten Kunstwerke kaufen möchte, raten wir, sich direkt an den Künstler zu wenden. Wir begrüßen das sehr und vereinnahmen keine Zinsen auf verkaufte Gemälde. Die Leute sollen verstehen: „Freehome“ ist keine Galerie. Viele denken, es ist eine Art „Home Gallery“ oder Kunstsalon, aber diese Begriffe passen gar nicht. Man kann über ein altruistisches und ehrenamtliches transparentes Projekt sprechen.

Vadim: „Artist to Artist“ ist die Formel des Projekts „Freehome“. Sie wurde allerdings schon viel früher gefasst: Am Ende der 1970er Jahre in Moskau, als Künstler ihre Ausstellungen selbst veranstaltet haben.

Wann genau haben Sie das Projekt in Berlin begonnen?

Maria: Wir sind 2016 mit „Freehome“ gestartet. Der Arbeitsplan und Rhythmus, in dem wir Ausstellungen oder Lesungen veranstalteten, war vom Anfang an sehr intensiv und stürmisch. Wir arbeiten auch heute, nach drei Jahren, ernst an dem gesamten Programm und an jeder Ausstellungskonzeption. Obwohl wir schon reichlich Erfahrung haben, brauchen wir doch jedes Mal viel Zeit, um ein Thema zu besprechen und abzuarbeiten, passende Teilnehmer zu finden, Texte oder Kommentare zu schreiben, Plakat und Einladung zu gestalten, aufzubauen, abzubauen und eine Menge an anderen Aufgaben zu erledigen. Es kommt nie zu einer Routine oder Langeweile, sondern bringt uns jedes Mal zu neuen Entdeckungen. Es ist also wie eine kreative Schatztruhe – solange man sucht, findet man neue Schätze.

Wie lange noch sind Sie bereit, weiter zu suchen?

Maria: Es macht Spaß und wir machen es gerne weiter, solange wir Motivation und Energie für dieses altruistische Projekt haben. Und es gibt natürlich auch andere wichtige Faktoren. Wir werden sehen.

Was ist das Ziel von „Freehome“ als Kunstprojekt?

Vadim: Eine der Aufgaben von „Freehome“ ist es zu zeigen, wie man ein solches Format schafft, das ohne Geld, ohne Sponsoren, ziemlich aktiv und auf einem guten professionellen Niveau funktionieren kann. Das ist auch ein humanistisches Konzept.

Inwiefern ist es humanistisch?

Insofern, dass wir zeigen wollen, dass nur der menschliche Faktor und die freundliche Kommunikation zur Entwicklung der Kunst beiträgt und nicht umgekehrt. Das ist für uns grundlegend. Man kann mit Museumsleuten, Galeristen, Kuratoren, Künstlern verschiedener Stufen und Ränge kommunizieren und keine Hierarchien merken. Bei „Freehome“ sind Hierarchien vollständig nivelliert. Diejenigen, die ihren hohen Status und ihr aufgeblähtes Ego mitschleppen, sind hier schwarze Schafe. Wir hatten solche Beispiele. Diese Leute verstehen einfach die Besonderheiten dieses Ortes nicht. Aber selbst sie, wenn sie das nächste Mal kommen, ändern sich, nehmen ihre Masken ab und beginnen, eine lebendige Sprache zu sprechen.

Das Gespräch führte

Anna Esprit /ɛsˈpriː/

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