#kunstwärts Die Kunstszene Berlins der Zwanziger – ein konstruktiver Dialog?

#kunstwärts Die Kunstszene Berlins der Zwanziger – ein konstruktiver Dialog?

In den 1910er-1920er Jahren gehörte es zum guten Ton, sich am Kulturleben Berlins zu beteiligen. Für die Künstler war es lebensnotwendig. In der Hauptstadtluft schwebten kulturelle Experimentierfreudigkeit und künstlerische Kreativität der Nachkriegsjahre. Als Künstler brauchte man diese Luft zum Atmen – und das nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichen Sinne. Zu Zeiten der Weimarer Republik erwarb sich Berlin den Ruf einer Weltkunstmetropole. Auch die Crème de la Crème der russischen Avantgarde hat ihr Scherflein dazu beigetragen: Gefühlt sind alle damals früher oder später in Berlin aufgetaucht. Aber wer genau? Was genau haben sie da gemacht? In diesem Post erfährst du, was es denn war, dass das Kunstleben im russischen Berlin der Zwanziger so aufregend gemacht hat.

Im Kampf gegen die etablierten Kunstformen vereinte die Kunstszene Berlins Avantgardisten aller Art: Expressionisten, Futuristen, Konstruktivsten, Dadaisten und Künstler der Neuen Sachlichkeit. Aufgrund dieser Gegebenheiten nährten sich die russischen und deutschen Künstler. Die erste Ausstellung, bei der russische und deutsche Kunst aufeinander trafen – allerdings nicht durch die eigentliche Teilnahme, sondern ideell – war die „Erste Internationale Dada-Messe“ im Juli-August 1920. Dazu und generell zur Anerkennung der russischen Revolutionskunst trug das Buch „Neue Kunst in Russland 1914 bis 1919“ bei. Es erschien Anfang 1920 in einem Potsdamer Verlag und wurde bedauerlicherweise nie ins Russische übersetzt. Im Buch schilderte der 18-jährige (!) Kulturjournalist und später sowjetische Diplomat Konstantin Umanskiy den Weg des russischen Expressionismus und erklärte dem westlichen Leser die Begriffe wie „Imaginismus“, „Lubki“, „Maschinenkunst“, „Tatlinismus“, usw. Besonders die Berliner Dadaisten fühlten sich dabei angesprochen: Die Aussagen „Die Kunst ist tot. Es lebe die neue Maschinenkunst Tatlins“ wurden zum Motto der Dada-Schau. Somit wurden die russischen Konstruktivsten im Westen bekannt und gleich gewürdigt. Obwohl die ästhetischen Suchen der russischen Avantgarde mit den „Die Kunst ist tot“-Ideen der deutschen Dadaisten vielleicht nicht vollkommen übereinstimmten, ließ sich der Einfluß der russischen Konstruktivsten auf die europäische Kunst (erst Dada und später Bauhaus) augenfällig ablesen.

Die meisten Künstler-Emigranten kamen in die deutsche Hauptstadt allerdings erst nach der Dada-Messe, am Ende des Jahres (Iwan Puni, Xenia Boguslawskaja, Lew Lagorio, Boris Bilinski, Simon Lissim, Nikolaj Zareckij) oder im Jahr 1921 (Alexander Archipenko, Alexandre Arnstam, Léon Zack, Vasili Masyutin, Grigori Mjassojedow, Georgij Lukomskij, Wassily Kandinsky, Leonid Pasternak, El Lissitzky, Ljubow Kosinzewa). In dieser Zeit wurden in Berlin russische kreative Vereinigungen und Klubs gegründet. Die bekanntesten davon waren das DISK, oder „Dom Iskusstw“ (zu Deutsch „Das Haus der Künste“, 1921-1923) über dem „Café Léon“ am Nollendorfplatz, und der „Verband russischer Maler, Bildhauer und Baumeister“ (1923-1925). Sie veranstalteten Literatur- und Diskussionsabende. Man las ihre Werke vor und hielte Vorträge, unter anderem über die russische Kultur und die aktuelle Kunstentwicklung. Solche russischen Vereinigungen und Klubs waren aufgrund ihrer sprachlichen Besonderheiten in der Regel vom restlichen Berlin leider isoliert. Die Russen konnten sich dort jedoch gemütlich, geborgen und wieder zu Hause fühlen: Sie teilten dieselbe Muttersprache und Vergangenheit.

Nollendorfplatz, Berlin, 1900 Postkarte

Als eine Ausnahme ist an dieser Stelle eine nicht-russische Künstlervereinigung und ein paar russische Nachnamen zu erwähnen. 1918 gründeten die Expressionisten Max Pechstein und César Klein die rebellische “Novembergruppe”. Unüblicherweise gehörten manche russischen Künstler-Emigranten zu ihren Mitgliedern und Ausgestellten: Xenia BoguslawskajaMarc ChagallAlexej JawlenskyEl LissitzkyWassily Kandinsky und Iwan Puni. Sie nahmen an Gruppenausstellungen der Vereinigung teil und vertraten die Künstlergruppe auf den großen Ausstellungen. Zu den bedeutendsten Mitgliedern der „Novembergruppe” zählen darüber hinaus Künstler und Architekten wie Lyonel Feininger, Otto Freundlich, Paul Klee, Käthe Kollwitz, Walter Gropius, Hugo Häring, Erich Mendelsohn und Ludwig Mies van der Rohe, Komponisten Alban Berg und Kurt Weill und Schriftsteller Bertolt Brecht.

Herausgabe als Kunst

In den Zwanzigern erlebten die russischen Verlage nun in Berlin ihre Renaissance. Im letzten Post hast du einen Überblick über die damalige mediale Landschaft bekommen. Oft arbeiteten die Verlage mit den Künstler zusammen, druckten Kunstbücher und Kataloge mit ihren Bildern oder ließen Bücher anderer Autoren von ihnen illustrieren. Die emigrierten Kunstschaffenden konnten somit ihr Geld verdienen. Es war eine schöne Symbiose.

Einer der größten und berühmtesten Verlage, der sich auf Kunstbüchern, Radierungen und Graphik spezialisierten, war der „Gelikon“. Viele Bücher für diesen Verlag illustrierte und gestaltete beispielsweiser der Künstler Wassili Masjutin. Unter anderem bebilderte er Monographien über Thomas Bewick, Frank Brangwyn, Louis Pierre Henriquel-Dupont und Henri de Toulouse-Lautrec.

Wassili Masjutin "Der goldene Hahn", 1923. Mehr auf www.liveauctioneers.com

Der Verlag „Russische Kunst“ gab vor allem Fachzeitungen und -zeitschriften heraus. Eine in ihrer Gestaltung und Inhaltsqualität exzeptionelle illustrierte Kunstzeitschrift, eine Art Prachtausgabe unter Periodika der Zwanziger, war „Jar-Ptitza“ (Der Feuervogel), die Monatsschrift für Kunst und Literatur. Der Verleger Alexander Kogan fungierte auch als Chefredakteur der Zeitschrift. Im Gegensatz zu allen damals herrschenden avantgardistischen Tendenzen erinnerte das Design von „Jar-Ptitza“ mit ihren Art nouveau Gestaltungselementen an die besten Zeitschriften des Silbernen Zeitalters wie etwa Sergej Djagilews „Mir Iskusstwa” („Welt der Kunst“) oder „Zolotoe runo“(„Goldenes Vlies“), die illustrierte Zeitschrift der russischen Symbolisten.

„Welch' ungewöhnlicher Klang für das deutsche Ohr! Was bedeutet der Name? Vielleicht sagt man am besten „Feuervogel`` oder „Glutvogel``; das ist aber nicht der Vogel Phönix aus dem deutschen Märchen, vielmehr ist es der ihm verschwisterte, russische Märchenvogel, der um Mitternacht, da ihn niemand erwartete, in den dunklen Garten geflogen kommt: sein strahlendes Gefieder macht alles ringsum leuchten. Den Traum der Sehnsucht trägt er auf seinen Flügeln; Freude bringt er und Lust!”,

schrieben die Autoren der Zeitschrift zum Geleit in der ersten Ausgabe (siehe die Bildergalerie). In der „Jar-Ptitza“ wurden Erzählungen, Gedichte, kritisch-biografische Essays über die zeitgenössischen Künstler, Kunst- und Theaterrezensionen veröffentlicht. Manche Texte wurde ins Deutsche übersetzt, vor allem diejenige russischen Aufsätze der Zeitschrift, die das russische Kunstleben beleuchten – in erster Linie die russische Malerei, das Ballett und Theater. “In dieser Zeitschrift soll der Versuch unternommen werden, wenn auch in bescheidenem Maße, zu sammeln und zu verbinden, alles was seiner Natur nach organisch-künstlerisch zusammengehört. Die russische Kunst, vor allem das Ballett und das russische Theater, sind weltberühmt; auch von der russischen Malerei wird mit großer Anerkennung gesprochen; sie ist in Westeuropa, zumal in Deutschland, leider nur wenig bekannt.” Insgesamt kam 14 Ausgaben* heraus, die letzte allerdings nicht in Berlin, sondern in Paris im Jahr 1926.

Jedes Heft war inhaltlich einem bestimmen Thema gewidmet – mal war es die Zeit, mal das Theater, mal die Natur, mal die bildende Kunst – und diese wurden möglichst breit behandelt dadurch, dass man sie mittels verschiedener Formen der Kunst darstellte. Aber im Grunde genommen reflektierten die Autoren der Zeitschrift in jeder Ausgabe über die russische Kultur und hinterfragten deren weitere Entwicklung nach den prägenden politischen Ereignissen der letzten Jahre. Außerdem gab es in jeder der 14 Zeitschriften eine Erzählung über einen russischen Maler-Emigranten bebildert mit seinen Werken, unter anderem über Iwan Bilibin, Marc Chagall, Isaak Lewitan und Léon Bakst. Die großartigen Illustrationen in der Zeitschrift stammten von den Vertretern der emigrantischen Kunstszene Russlands: Leonid Brailovsky, Natalija Gontscharowa, Boris Grigorjew, Boris Kustodijew, Michail Larionow, Ludmila Chirikova-Shnitnikova, Georg Schlicht, Sergei Tschechonin. 

Bildergalerie “„Jar-Ptitza“: Titelbilder und Illustrationen der russischen Künstler” (Auswahl)

Ein Gegenpol der polygraphischen Kunst im russischen Berlin stellte die Zeitschrift des Verlags „Skify“ (Skythen) dar. Die interdisziplinäre, dreisprachige Kunstzeitschrift „Weschtsch – Objekt – Gegenstand“ wurde von dem Schriftsteller Ilya Ehrenburg und dem Maler El Lissitzky herausgegeben. Der Untertitel „Internationale Rundschau der Kunst der Gegenwart“ ließ sich nicht nur formal, durch die Mehrsprachigkeit bekräftigen, sondern auch inhaltlich, durch die Auseinandersetzung mit der Kunst anderer Länder und durch die Aufgaben der Zeitschrift: „die in Russland Schaffenden mit der neusten westeuropäischen Kunst bekannt zu machen und Westeuropa über die russische Kunst und Literatur zu informieren.“

In der ersten Ausgabe, einer Doppelnummer, veröffentlichten Ehrenburg und Lissitzky sein konstruktivistisches Manifest und machten die Zeitschrift somit zum Sprachohr des Konstruktivismus – aber eben auf einer aus dem Kontext des Bolschewismus herausgelösten und nicht-ideologischen Weise. „Der „Gegenstand“ steht allen politischen Parteien gleich fern“, so die Herausgeber.

Ilya Ehrenburg und El Lissitzky
Ilya Ehrenburg und El Lissitzky

Ehrenburg und Lissitzky schufen einen Forum des Austausches mit Vertretern westlicher Avantgarde-Strömungen und ermöglichten eine Diskussion zwischen den russischen und den westeuropäischen Künstlern. Sie riefen auf: „Die Kunst ist von nun ab, bei Wahrung aller lokalen Eigentümlichkeiten und Symptome, international.“

Das Themenspektrum und Geographie der Beträgen im „Gegenstand“ waren beeindruckend: zeitgenössische Malerei, abstrakte Kinematographie, neue Theateraufführungen in Paris, Ausstellungen in Berlin, Düsseldorf, Wien, Moskau, etc., neue Bücher, amerikanische Literatur, moderne Poesie, neuer Tanz, Pantomime, Fotographie, Jazz-Musik und so weiter… Es gab dafür aber feste Rubriken: Kunst und Öffentlichkeit, Literatur, Malerei, Skulptur und Architektur, Theater und Zirkus, Kino, Musik. Die Palette der Beitragende war nicht weniger bemerkenswert, unter ihnen Charly Chaplin, Le Corbusier, Theo van Doesburg, Sergej Jessenin, Pierre Jeanneret, Raoul Hausmann, Fernand Léger, Wladimir Majakowski, Wsewolod Meyerhold, Boris Pasternak, Pablo Picasso, Hans Richter, Alexander Rodtschenko, André Salmon, Jean Salot, Alexander Tairow und Wladimir Tatlin.

Die Texte erschienen sowohl auf Russisch, als auch auf Deutsch und Französisch. Konzeptionelle Beiträge und solche über westliche Gegenwartskunst wurden meist auf Russisch veröffentlicht, teilweise auch in deutscher und französischer Übersetzung, Texte speziell zur russischen Kunst und deren Ausstellungen eher auf Deutsch und Französisch. Außerdem gab es Übersetzungen aus anderen Avantgardezeitschriften, beispielsweise aus Le Corbusiers Revue „L’Espirit Nouveau“.

Bildergalerie “Gegenstand: Titelbilder und Seiten” (Auswahl)

Ehrenburgs und Lissitzkys „Gegenstand“ war äußerst progressiv und auffallend. Unter den Zeitschriften des russischen Berlins war das Medium schon insofern atypisch und sogar befremdend, weil die nostalgisch-über­heb­lichen Töne auf seinen Seiten nicht zu spüren waren. Die Zeitschrift wurde sowohl von der Presse, als auch von vielen Intellektuellen stark kritisiert. Die Herausgeber hätten „mit ihrem Chaos und ihrer Desorganisation <…> die innere Ordnung und <…> Disziplin der Emigrantenlebens gestört“, so der Journalist V. Amfiteatrov-Kadashev in der Zeitschrift „Theater und Leben“.

Allerdings war der „Gegenstand“ nicht nur in den Augen der Emigranten umstritten: Die Verbreitung der dritten Ausgabe wurde in der UdSSR gar untersagt. Obwohl die Themen der zwei nächsten Nummer (die Kunst in Russland und die Kunst in den USA) schon annonciert worden waren, ohne Möglichkeit, die Zeitschrift in Russland zu verbreiten, hielten die Herausgeber das weitere Erscheinen des „Gegenstandes“ für sinnlos.

Der Höhepunkt des Berliner Kunstlebens

„Die Blockade Russlands geht ihrem Ende entgegen, – das Erscheinen des „Gegenstandes“ ist auch ein Anzeichen dafür, dass der Austausch von Erfahrungen, von Errungenem, von „Gegenständen“ zwischen jungen russischen und westeuropäischen Meistern begonnen hat.“ So lautete der erste Satz des Redaktionsartikels in der ersten Doppelnummer der Zeitschrift (März-April 1922). Die dritte Ausgabe vom Mai 1922 war in Sowjetrussland verboten.

Einige Monate später, im Oktober 1922, wurde in Berlin, in der Galerie van Diemen, Unter den Linden 21, nicht weit von der sowjetischen Botschaft entfern, eine Ausstellung eröffnet. „Während der Blockade haben die russischen Künstler sich bemüht, durch Aufrufe, Manifeste usw., Verbindung mit ihren westlichen Kameraden zu suchen. Doch erst die gegenwärtige Ausstellung kann als der erste wirkliche Schritt zur Annäherung bezeichnet werden. Mit dieser Ausstellung verfolgen wir den Zweck, Westeuropa alles das zu zeigen, was geeignet ist, über die schöpferischen Errungenschaften der russischen Kunst in den Kriegs- und Revolutionsjahren Aufschluss zu geben.“ So fing David Sterenberg, i.A. Volkskommissar für Kunst und Wissenschaft der UdSSR, das Vorwort des Katalogs zur „Ersten Russischen Kunstausstellung“ an, dem größten Kunstereignis des Jahres. Die Umschlagabbildung dieses Katalogs entwarf El Lissitzky selbst. 

Katalog der „Ersten Russischen Kunstausstellung“

Die Vorbereitung und die Zusammensetzung der Schau waren ein langer und mühsamer Prozess.** Die Ausstellung wurde letztendlich vom Russischen Kommissariat für Volksbildungswesen und Kunst veranstaltet, zusammen mit dem Auslandskomitee zur Organisierung der Arbeiterhilfe für die Hungernden in Russland (infolge des Krieges, der Revolution und schließlich noch des Bürgerkrieges brach im Winter 1920/21 eine Hungersnot aus). Die Organisatoren, die beteiligten Künstler sowie die hochrangigen Offiziellen aus beiden Ländern nahmen an der Eröffnung teil, darunter von deutscher Seite der zuständige Reichkunstwart Edwin Redslob. All das wies nicht zuletzt auch auf den politischen Charakter der Schau hin. Der Sowjetregierung ging es nicht nur um die karitative Hungerhilfe und die Präsentation der russischen Kunst im Westen. Für sie war die Ausstellung in erster Linie ein effektives Mittel der prosowjetischen Propaganda und eine Möglichkeit, ein positives Bild der Kulturpolitik des Landes zu zeichnen.

Laut des Katalogs wurde in den Räumen der Galerie van Diemen über Tausend Kunstwerke ausgestellt, die in den Jahren 1917-1922 von den sowohl in Russland Lebenden, als auch emigrierten Künstlern, aber auch von den Kunststudenten der russischen Kunsthochschulen geschaffen worden sind: mehr als 200 Gemälde, über 500 grafische Werke, Plakaten, Skulptur sowie Entwürfe der Bühnenbilder und Kostümen, ebenso wie Werke der angewandten Kunst wie Porzellan, Schmuck und Stickerei. Das waren die Arbeiten der Vertreter von den unterschiedlichen Kunstströmungen, -verbänden, -schulen und -gruppen. Man versuchte also alle Entwicklungsphasen und alle Gattungen der russischen und frühsten sowjetischen Kunst zu umfassen und die russische Kunst möglichst breit zu präsentieren.

Trotz der scheinbaren Vielfalt war die Ausstellung jedoch nicht sonderlich repräsentativ. Es wurde bei weitem nicht immer die bedeutendsten, sondern oft zufällig ausgewählten und vor allem vor­re­vo­lu­ti­o­nären Arbeiten der einzelnen Künstler gezeigt. Darüber hinaus handelte es überwiegend um die Werke der linken Künstler, nicht zuletzt weil die Schau größtenteils aus der Museumssammlung des Kommissariats für Volksaufklärung zusammengestellt worden war. Interessanterweise merkte selbst Anatoli Lunatscharski, der Volkskommissar für Bildungswesen und Auftraggeber der Ausstellung, den Makel der konjunkturbelastenden Exposition an. Als ehemaliger Philosophiestudent der Universität Zürich (wo er auch mit seinem Kommilitonen Nikolai Berdjajew gut befreundet war) und Autor von mehrer Aufsätze zum Thema Kultur und Kunst besaß er fundierte Kenntnisse zur Kunstgeschichte. Öffentlich äußerte er seine gerade zu gerechte Kritik (zitiert nach H. Richter): „Die Deutschen haben keinen ganz richtigen Eindruck von der russischen Kunst erhalten, Ihnen scheint es, dass bei uns die „linke“ Richtung dominiert und die dem Realismus nahestehenden Formen der Kunst nur kümmerlich ihr Dasein fristen. Die Berliner Ausstellung spiegelte nur jene besondere Konjunktur wider, die wir in diesen Jahren erlebten: den Zustrom an Kräften gerade von der linken Flanke der vorrevolutionären Kunst.“

Fotografie auf der Ausstellung, V. l. n. r.: David Sterenberg, D. Marianov, Nathan Altman, Naum Gabo, Friedrich A. Lutz. Gabo-Archiv. Schenkung Nina Williams 1987. © Berlinische Galerie

Zunächst für einen Monat geplant, wurde die Ausstellung allerdings bis zum Ende des Jahres verlängert und lief insgesamt zehn Wochen. Danach, im Jahr 1923, wurde sie im Stedelijk Museum in Amsterdam einen Monat lang gezeigt. Während der Zeit in Berlin soll die Schau rund 15 Tausend Besucher angelockt haben. Das sind für die damaligen Verhältnisse extrem große Besucherzahlen und weist auf den unbestreitbaren Erfolg und das erhöhte Interesse des Berliner Publikums hin. Auch von der Presse – sowohl von der deutschen, als auch von der russischen Seite – wurde die Ausstellung mit Begeisterung empfunden. Sie sei als „ein wichtiges Ereignis zu begrüßen“.** Oft enthielte die Ausstellungskritik die Gegenüberstellung der im Ausland lebenden und der in Russland arbeitenden Künstler, der Emigrantenkunst „à la russe“ und der revolutionsgeborenen Kunst, der „Kunst des Oktobers“. Aber am Ende zweifelte keiner daran, dass die Ausstellung eine immense Bedeutung für die weitere Anerkennung der russischen Avantgarde und die Verbreitung des Konstruktivismus im Westen hatte und überdies zur Entwicklung der modernen Kunst im Allgemeinen beibrachte. Die „Erste Russische Kunstausstellung“ war das Schlüsselerlebnis des Kunstlebens Berlins und zwar nicht nur für seine russische Gemeinde.

Als Reaktion auf die Berliner Schau wurde im Oktober 1924 in den Räumen des Historischen Museums am Moskauer Roten Platz die „Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung“ eröffnet, mit dem Ziel, nun die vielschichtigen Kunststationen Deutschlands nach 1914 vorzustellen. Die Schau umfasste 501 Kunstwerke der Malerei, Plastiken und Architektur von den 126 teilnehmenden Künstlern aus 13 verschiedenen Künstlervereinigungen. (Quelle des Katalogs Titelbildes)

Erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung. Moskau-Leningrad. Foto: Anja Elisabeth Witte © Berlinische Galerie

Finale des bunten Emigrantenlebens

Im Jahr 1922 und später in den 1920er fanden weitere Einzeln- und Gruppenausstellungen russischer Künstler statt: in der Sturm Galerie, der Alfred Flechtheim Galerie, der Neumann Galerie, der Carl Nikolai Galerie, der Viktor Hartberg Galerie sowie in den Räumen der Buchhandlung „Zarja“ (Das Morgenrot). 1922 stellte die Goldschmidt Wallerstein Galerie Wassily Kandinsky in einer Einzelausstellung und in einer Sommerausstellung aus. 1926 veranstaltete die Galerie Neumann-Nierendorf eine große Schau der Kandinskys Abstraktmalerei zum 60. Jubiläum des Künstlers. Jedoch hatte keine Kunstausstellung solche Resonanz wie die „Erste Russische“.

Das russische Berlin der 1920-er Jahre war kurzlebig. Dafür aber so einzigartig, dass man ihm eine große Rolle bei der Stärkung der russischen nationalen Bewusstsein und Erhaltung der kulturellen Werte jenseits der russischen Grenze zuschreibt. Möglicherweise war genau das, was die russischsprachigen Menschen in Berlin geeinigt hat: Sie wollten die russische Kultur auch außerhalb Russlands fördern, entwickeln und vermitteln.

Ende 1923 war das Paradies für russische Emigranten in Berlin allerdings vorbei. Die Einführung der Rentenmark infolge der Währungsreform 1923-1924 stoppte die Hyperinflation. Die Wirtschaft der Weimarer Republik erlebte einen spürbaren Aufschwung, es fangen die Jahre an, die in der deutschen Geschichte als „goldene Zwanziger” bekannt sind. Aufgrund der steigenden Kosten schloßen viele russische Verlage allmählich oder verlagerten die Produktion in andere Länder. Einige Emigranten zogen nach Paris, andere nach Prag, manche kehrten nach Russland zurück. Nach 1933 verliess die Mehrzahl der russischen Emigranten Berlin und Deutschland im Allgemeinen. Viele Künstler mussten fliehen. Die Arbeiten von Wassily Kandinsky, El Lissitzky, Naum Gabo, Marc Chagall und Alexej Jawlensky wurden als „entartete Kunst“ diffamiert.

Nach 1945 wurde die Verbindung zwischen Berlin und Moskau peu à peu wieder aufgenommen. Aber erst ab den 1990er-Jahren, als einerseits die Mauer und andererseits der Eiserne Vorhang fiel, kam es erneut zu einer großen intellektuell-künstlerischen Zuwanderung aus Russland und den ehemaligen Sowjetrepubliken.

Deine Anna Esprit /ɛsˈpriː/

* Momentan befinden sich die Originale der „Jar-Ptitza“-Ausgaben in der Russischen Staatsbibliothek in der Abteilung mit seltenen Büchern. Manche Artikel und Reproduktionen, die in der Zeitschrift veröffentlicht wurden, wurden bisher nirgends nachgedruckt.

** Alle damit verbundenen Schwierigkeiten schilderte der Kunstkritiker Horst Richter ausführlich für das Kommentarband „Stationen der Moderne“ über zehn epochale Kunstausstellungen in Deutschland 1910-1962. S.: Roter E. (Hrsg.), Stationen der Moderne. Katalog epochaler Kunstausstellungen in Deutschland 1910-1962, König Verlag, Köln, 1988.

 *** Curt Bauer, Berliner Ausstellungen, in: Der Cicerone, Berlin 1922, S. 869.

Literatur und Quellen

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  • Wikipedia, Online-Enzyklopädie, URL: de.wikipedia.org.
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