Lass uns mal ins Kino gehen: Kinobesuch im Jahr 2017

Lass uns mal ins Kino gehen: Kinobesuch im Jahr 2017

Die letzten Marktforschungen der Film- und Kinowirtschaft (FFA) zeigen deutlich: Sowohl in Nordrhein-Westfalen mit der großen Kinodichte, als auch in am schlechtesten mit Kinos versorgten Brandenburg gehen weniger Menschen in den deutschen Kleinstädten ins Kino. Heißt das, dass Leute sich nicht mehr für Filmen interessieren? So oberflächlich soll man die Kinostatistik nicht ansehen.

Junge Menschen mögen Filmen schauen: in ihrer Freizeit und während der Prüfungsphase, mit Freuenden und allein, spaßeshalber und als Lernmittel. Heute machen sie das aber eher auf dem Laptop zuhause und gehen seltener ins Kino. Warum Hadi, Student der internationalen Volkswirtschaftslehre an der Universität Tübingen, hat eine klare Erklärung dafür. „Die junge Leute sind faul, langweilig, geizig, weniger familienorientiert, nicht romantisch, beschäftigt oder einfach keine wirklichen Kino-Fans“, glaubt er. Ob es zu expressiv geäußert oder nicht, entscheidet jeder für sich selbst. Man kann aber kaum das widersprechen, dass der Kinobesuch noch vor einigen Jahren – im Vergleich zu heute – die beliebteste Art der Familienunterhaltung oder der Verabredung war.

IMG_3870 Blockbuster Filmtheater “Blaue Brücke” in Tübingen

Aber seitdem Video-Streaming-Dienste im Massenmarkt angekommen sind, fragt sich jeder zuerst: Ist es zwingend notwendig, diesen Film im Kino anzuschauen, auch im Hinblick auf den künstlerischen Aspekt, oder entspanne ich mich lieber zu Hause und genieße ihn in Ruhe auf dem Laptop? Außerdem haben manche Leute heutzutage einen Home-Entertainment-Bereich mit einer Leinwand, die genauso groß wie die in den lokalen Kinos sein kann. Noch dazu kommt die Geldfrage: Bin ich wirklich so aufgeregt, dass ich bereit bin, zehn Euro für den Film auszugeben, anstatt ein bisschen zu warten und ihn mir fast umsonst online anzusehen? Das schlägt vor allem bei einem Kinobesuch für die ganze Familie zu Buche. Mit Parkplatz und Popcorn kann er bis zu 50 Euro kosten.

Nicht alle Kinofans schätzen die Situation genauso wie Hadi ein. Die Antwort von dem Tübinger Robert ist sehr anschaulich. „Ich finde es gar nicht schlecht, dass heute weniger Leute ins Kino gehen. Für mich ist es schlimm, wenn drin zu viel los ist“, meint der 55-Jährige. „Aber auch nicht so, dass wenn fünf Reihen vor mir nicht frei sind, fühle ich mich unwohl“, fügt er lachend hinzu. Für Robert sind die stimmungsvollen Momente bei einem Kinobesuch wichtig. Seien es positive Punkte, wie die Nachwirkungen der filmischen Atmosphäre, während die Vorhänge allmählich wieder zugehen. Oder die, die ihm daran stören: „Ich mag es nicht, wenn es nach einem Film diesen hektischen Aufbruch gibt, wie wenn man gerade aus einem Karussell aussteigt“, so Robert.

IMG_3873 copy Kino “Museum” in Tübingen

All das sind die Meinungen von den Liebhabern. Wenn wir einen Branchenexperten fragen, gehen sie das Thema oft kritischer und analytischer heran. Martin Reichart betrachtet das Problem aus der Perspektive des Geschäftsführers der Kinos „Museum“ und „Blaue Brücke“ in Tübingen. „Die Leute gehen heute gezielt in einen Film,“ sagt Reichart,“ Aber heute geht alles – Filme anschauen, Partnersuche, Bankgeschäfte – über diesen blöden Rechner.“ Vor allem sieht er die allgegenwärtige Handynutzung bedrohlich an: „Die jungen Leute können nicht mehr kommunizieren. Wenn wir im Kino ein junges Pärchen haben, unterhalten sie sich über Handys.“ Aber Kino sei immer noch ein Gemeinschaftserlebnis, so der Geschäftsführer der „Museum“ und „Blaue Brücke“. „Vor der großen Leinwand gemeinsam lachen, gemeinsam weinen – das ist das, was Kino ausmacht. Das wird in Zukunft auch so sein“, sagt Reichart.

Überdies beeinflussen die inneren Veränderungen im Kinobereich die aktuellen Statistiken, meint der Geschäftsführer der Programmkinos „Arsenal“ und „Atelier“ in Tübingen Stefan Paul. „Früher machte man einen Film für die große Leinwand, der danach auf DVD oder im Fernsehen kam. Heute werden fast alles, die in Deutschland hergestellt werden, mit Fernseh- oder Filmfördergeldern gedreht. Die Kinos sind nicht mehr allein: Sie müssen sich weitgehend nach den Verleihen richten, weil sie im Grunde bestimmen, wo, wann und was hingeht“, sagt Paul. Dieser Druck von den Verleihen auf die Kinos sei eine Verwertungskette, die aber eine Rolle für die Filmindustrie spiele. „Es macht keinen Sinn, wenn ein Film produziert, aber nirgendwo gezeigt wird“, so der Geschäftsführer der Programmkinos in Tübingen und des 1975 gegründeten „Arsenal Filmverleihs“.

Auch die Digitalisierung hat die Kinoindustrie verändert: sie vereinfacht den Prozess des Filmemachens auf allen Ebenen. An der Produktion gibt es heute keinen Mangel. Man dreht sogar mehr Filme als vorgeführt werden können: In 2016 wurde 654 deutsche Filme produziert. „So viele Wochen gibt es gar nicht“, sagt Paul.

IMG_3838-min Programmkino “Arsenal” in Tübingen

Die Experten aus Reutlingen stimmen dem Tübinger Kollegen zu. „Es ist eine wahre Filmflut!“ sagen Karin Zäh und Andreas Vogt aus dem genossenschaftlichen Programmkino „Kamino“. „Man konnte sich freuen aber auf der anderen Seite ist es eine ungeheure Flut“, meint der ehemalige Mitarbeiter des Kulturamts in Reutlingen Vogt. „Jeder fühlt sich berufen, einen Film zu machen, besonders im Dokumentarfilmbereich. Ich frage mich, wer guckt diese Filme von kleinen deutschen Verleihen? Es ist wirklich schade, dass sie einfach weg sind.“ In Kleinstädten laufen diese Vielfalt von Low-Budget- und unabhängigen Filme nicht, sondern es gibt meistens nur die großen Blockbuster. Tübingen und jetzt auch Reutlingen mit dem am Ende 2013 entstanden Programmkino „Kamino“ sind die Ausnahmen mit ihren bunten Kinoprogrammen.

Die Gründe für diese Situation im Filmbereich in Deutschland liegen tiefer als man glaubt. Schauen wir über die deutsche Grenze hinaus. In Frankreich zum Beispiel gehört das Kino schon immer zu den fünf Künsten – neben bildender Kunst, Theater, Ballett und Literatur. Auch gesellschaftspolitisch gesehen war es auf der gleichen Ebene. In Deutschland hat die Kinoindustrie jedoch eine umstrittene Entwicklung. „Kino wird immer noch als eine triviale Unterhaltung angesehen. Es hat nie die gleiche Wertschätzung wie ein Museumsbesuch erfahren“, sagt der Geschäftsführer der Programmkinos in Tübingen Stefan Paul. Das liege an der Filmgeschichte Deutschlands: Filme als Propagandamittel von Nazis, Produktionspause danach, deutsche Heimatfilme, Schnulzen in den 50er Jahren und hinzu noch eine leichte Pornowelle. All das habe dazu geführt, dass das Bild vom Kino in der Öffentlichkeit eher schlecht sei gewesen. „Als wir in den 70er Jahren angefangen haben, ein besseres Kinoprogramm aufzubauen, gab es Kinos in Kleinstädten überhaupt nicht“, erinnert sich Paul.

Die Medienforscher prognostizieren einen weiteren Rückgang der Kinobesucherzahl auf 122 Mio. bis 2019. Aber ist diese Zahl gut oder schlecht? Das kommt auf die Sichtweise an. Mitte der 1970er Jahre waren die Zahlen ähnlich. Aber damals hatten die Menschen keine Leinwände zuhause und an Plattformen wie Netflix war nicht zu denken. Man darf die Zahl also durchaus auch positiv bewerten.

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